Challenge
Einführen digitaler Technologien in die Orthopädietechnik, Unterstützung des handwerklichen Prozesses mit Hilfe digitaler Workflows und Werkzeuge
Solution
Geomagic® Freeform® 3D Systems als Basis für digitale Prozesse in der Orthopädietechnik. Dynabots ermöglichen die Automatisierung von Prozessschritten
Results
- Implementierung ingenieurtechnischer Abläufe in die Modellierung von Prothesen-/Orthesenstümpfen.
- Reproduzierbarkeit von Prothesen und Orthesen
- Neue Möglichkeiten für Orthopädietechniker durch Digitalisierung
- Bessere und schnellere Anpassung von Prothesen/Orthesen an den Patienten
Die Orthopädietechnik ist einer der letzten Bereiche, in denen handwerkliche Strukturen vorherrschen, industriell hergestellt werden höchstens Komponenten. Mit dem 3D-Druck und spezialisierten Modelliersystemen bahnt sich nun eine digitale Revolution auch in diesem Bereich an – eine Revolution, die völlig neue Möglichkeiten bietet, Patienten das Leben zu erleichtern.
Das Sanitätshaus Häussler arbeitet gemeinsam mit der Forschungsgruppe Biomechatronik der Technischen Hochschule Ulm und 3D-Spezialist Antonius Köster an neuen Methoden, das Werkzeug der Wahl ist dabei Geomagic Freeform von 3D Systems. Mit Hilfe der Dynabots in Freeform lässt sich der Prozess der Modellierung der Prothese vereinfachen und beschleunigen. Zudem lassen sich gut angepasste Prothesen genau reproduzieren.
Sanitätshaus Häussler – Symbiose von Handwerk und Forschung
In Süddeutschland ist das Sanitätshaus Häussler eine wichtige Größe. Gegründet wurde das Unternehmen im Jahr 1916 durch Thomas Oesterle als Spezialwerkstatt für das Festungshauptlazarett in Ulm. Schon der Gründer legte Wert auf die Zusammenarbeit mit der Medizin und arbeitete in der Klinikwerkstatt.
Im Jahr 1984 eröffnete Häussler eine Klinikwerkstatt an den Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm (RKU) – auch hier wurde wieder die gute Verbindung zu Medizin und Forschung deutlich.
Der Anspruch des Unternehmens geht über ein reines Sanitätshaus hinaus, in der Orthopädietechnik arbeitet man eng mit der Technischen Hochschule Ulm zusammen, wo mit Prof. Dr. Felix Capanni ein Fachmann für Medizintechnik und Biomechatronik arbeitet und forscht. Steffen Matyssek arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Capanni und leitet seit diesem Jahr die Abteilung Forschung und Entwicklung bei Häussler. Unter anderem in der Betreuung von Bachelor- und Masterarbeiten ist er das Bindeglied zwischen Forschung und kommerzieller Umsetzung.
“Wir arbeiten an der Revolutionierung der O&P-Industrie und Geomagic Freeform ist die Basis dieser Revolution."—Steffen Matyssek
Orthopädietechnik: Bis heute von manueller Arbeit geprägt
In der Orthopädietechnik entstehen vor allem individuell angefertigte Orthesen und Prothesen. Eine Orthese soll ein Körperteil oder den Rumpf stabilisieren, stützen, ruhigstellen, entlasten oder eine Fehlstellung korrigieren. Prothesen ersetzen dagegen fehlende Gliedmaßen.
Beide Arten von Hilfsmitteln bestehen aus funktionalen Teilen, beispielsweise Gelenken, die heute meist industriell hergestellt werden, und den Bereichen, in denen sie am Körper des Patienten anliegen. Die beiden großen Herausforderungen für den Orthopädietechniker sind zum einen die Herstellung der korrekten Funktion und deren Anpassung an die Größen- und Kraftverhältnisse des Patienten. Zum anderen muss die Schnittstelle zum Körper so angepasst sein, dass Seite Kräfte aufgenommen und übertragen werden können, ohne Scheuerstellen oder andere Reizungen zu verursachen.
„Die Orthopädietechnik ist nach wie vor sehr handwerklich geprägt“, erläutert Matyssek, der inzwischen in Vollzeit die Forschungsabteilung bei Häussler leitet, „mit der Digitalisierung ändern sich unser Beruf und die Möglichkeiten, die wir haben, aktuell jedoch radikal. Durch die hohe Bedeutung manueller Arbeit und Erfahrung, die der Orthopädietechniker in die Gestaltung und Umsetzung von Prothesen und Orthesen einbringt, ist es nahezu unmöglich, ein gutes Ergebnis zu 100 Prozent zu wiederholen. Eine zweite Prothese wird immer etwas unterschiedlich zur ersten sein. Auch der 3D-Druck wird in Zukunft eine große Rolle in der Orthopädietechnik spielen – und dafür ist natürlich auf jeden Fall ein 3D-Modell notwendig.“ Um diese – oft negativen – Abweichungen zu eliminieren, bietet es sich an, einen Teil des Prozesses zu digitalisieren.
Digitalisierung bietet Vorteile für Techniker und Patienten
Prof. Capanni ergänzt: „Startups unter anderem aus Hochschulen nutzen digitale Werkzeuge zur Erzeugung von Hilfsmitteln, um diese schnell, kostenorientiert, patientenindividuell und theoretisch grenzenlos über das Web anbieten zu können. Das Einzugsgebiet der traditionellen OT ist heute in den meisten Fällen auf einen lokalen Wirkungsumkreis beschränkt. Die Digitalisierung wird diese Grenzen aufbrechen. Um zukunftssicher aufgestellt zu sein, müssen OT-Firmen deshalb in digitale Werkzeuge investieren.“
"Die Digitalisierung bietet uns Modellierungsmöglichkeiten, die wir vorher nicht hatten und die es uns ermöglichen, die funktionellen und ästhetischen Wünsche des Patienten zu erfüllen."—Professor Dr. Felix Capanni
Der traditionelle Workflow für die Herstellung einer Prothese oder Orthese beginnt mit der Abformung des betreffenden Körperteils mit Gips. Diese traditionelle Herangehensweise hat immer noch in manchen Anwendungsgebieten Vorteile gegenüber dem 3D-Scannen, wie Matyssek erläutert: „Im Prinzip wäre es konsequent, sofort mit digitalen Daten zu arbeiten. Allerdings gibt ein Scan nur die Geometrie des entspannten Glieds wieder, während man beim Umwickeln beispielsweise eines Beins weichere Bereiche schon so komprimieren kann wie dies später in der Prothese der Fall sein wird. Wenn es darum geht, eine Fehlstellung zu korrigieren, kann man dies zudem in der Gipsabformung gleich mitberücksichtigen, indem man das Bein entsprechend verbiegt.“
Im zweiten Schritt wird ein Positivmodell des Abdrucks hergestellt, entweder klassisch aus Gips oder anhand der digitalen 3D-Datei aus PU-Schaum gefräst. Danach beginnt die eigentliche Arbeit des Orthopädietechnikers. Auf Basis seiner Erfahrung und seines anatomischen Wissens trägt er an Stellen, an denen kein Druck ausgeübt werden darf, Material auf. An Stellen, an denen die Prothese eng sitzen soll, nimmt er dagegen Material ab. Dieser bearbeitete Abdruck bildet dann die Grundlage für den Aufbau der Prothese.
„Genau in diesem Schritt kommt das handwerkliche Geschick und das Können des Orthopädietechnikers zum Einsatz“, wirft Matyssek ein. „Und hier entstehen auch die Abweichungen, die über einen besseren oder schlechteren Sitz einer Prothese entscheiden. Deshalb arbeiten wir an der Digitalisierung dieses Prozessschritts, um wiederholbare Ergebnisse zu erzielen und Teilaufgaben des Modellierens durch Automatisierungen zu beschleunigen. Zudem bieten 3D-gedruckte Elemente völlig neue Möglichkeiten, Formen umzusetzen.
Geomagic Freeform als digitales Gipsmodell
Das Werkzeug dazu ist Geomagic Freeform mit dem Touch haptischen Gerät. „Freeform bietet mir alle Möglichkeiten und Werkzeuge, die ich im Gipsraum habe“, bilanziert Matyssek. „Darüber hinaus ermöglicht es Freeforms Makrofunktionalität Dynabot, wiederkehrende Arbeiten zu automatisieren und dem Anwender gezielt die Werkzeuge an die Hand zu geben, die er für den nächsten Schritt benötigt. Die so festgelegten Workflows führen automatisch zu einer Standardisierung.“
Ein gutes Beispiel, welche Vorteile der Einsatz von Freeform haben kann, ist die Bachelorarbeit von Alexander Krieger. Er entwickelte eine Vorfußprothese für Menschen, die ihre Zehen und/oder Teile des vorderen Fußes verloren haben. Diese Verletzung ist beim Gehen extrem hinderlich, der Patient bekommt üblicherweise einen speziellen Schuh oder eine Prothese, der beziehungsweise die im vorderen Teil mit Schaumstoff gefüllt ist und durch eine biegsame Sohle ein Abrollen des Fußes ermöglicht.
Die Eigenschaften der Sohle müssen dabei sehr genau auf den Träger, dessen Gewicht und dessen Bewegungsablauf abgestimmt werden – das Finden der richtigen Mischung zwischen „steif“ und „biegsam“ ist bisher der Erfahrung des Orthopädietechnikers überlassen. Krieger entwickelte auf Basis von Bewegungsanalysen und FEM-Simulationen ein Regelwerk, nachdem sich die optimale Sohle für jeden Patienten berechnen lässt. Für die Umsetzung entwickelte er einen Freeform-Dynabot.
„Das ist eine optimale Lösung, um auch weniger Geübte in der Arbeit mit Freeform zu unterstützen“, erläutert Krieger. „Mit Hilfe des Dynabots kann ich dem Anwender genau das Werkzeug, das er in einem Schritt benötigt, an die Hand geben und ihn so durch den Prozess führen. Der Dynabot stoppt, um eine Modellierphase zu ermöglichen und kann dann wieder aktiviert werden, um den nächsten Schritt zu absolvieren. Aktionen, die keine Eingaben benötigen, laufen natürlich ohne Anwendereingabe automatisch ab.“
So wird der Anwender von Kriegers Dynabot durch den Prozess der Erstellung einer Vorfußprothese geleitet. Dabei wird die parametrische Modellierung in Freeform ausgiebig genutzt, die Eingaben des Anwenders wirken sich über Parametrisierungen auf das Modell der Prothese aus. Dieses dient dann schließlich als Basis für einen 3D-Druck. Ein interessantes Detail des aktuellen Prototypen ist der Inliner, also das Teil, in dem der Fuß des Patienten steckt. Dabei handelt es sich um ein Gussteil aus Silikon, das in einer 3D-gedruckten Form entsteht. Die Prothese selbst ist in weiten Teilen vordefiniert, lediglich die Größe und die Steifigkeit werden an den Patienten angepasst.
Digitalisierung muss in die Lehre integriert werden
Prof. Capanni sieht die Lehre in der Pflicht: „Große Orthopädiefirmen bieten Orthopädiebetrieben bereits eine digitale Plattform zur Herstellung bestimmter orthopädischer Hilfsmittel. Hierbei handelt es sich aber um industrielle Unternehmen mit Technikern und Ingenieuren, die fundierte Kenntnisse im OT-Handwerk sowie im Ingenieurwesen besitzen. Über Letzteres verfügen klassische Orthopädiebetriebe in der Regel nicht. Die Anwendung digitaler Werkzeuge, wie das in unserer Forschungsgruppe verwendete Geomagic Freeform, erfordert vom Anwender bestimmte Fähigkeiten, die auch in der Ausbildung von Orthopädietechnikern integriert sein müssen. Dies ist zum einen der Umgang mit auf die Orthopädietechnik zugeschnittenen digitalen Konstruktionswerkzeugen und Konstruktionsprinzipien. Zum anderen müssen Kenntnisse über Werkstoffe und deren Fertigungstechnologien, zum Beispiel Kunststoffe für den 3D-Druck, vermittelt werden.“
Die Integration digitaler Technologien in die Arbeit des Orthopädietechnikers ist Teamarbeit, wie Matyssek erläutert: „Wir arbeiten daran, im Zusammenspiel mit anderen Sanitätshäusern, der Technischen Hochschule Ulm, 3D Systems und dem Systemhaus Antonius Köster weitere Workflows zu definieren und in Dynabots abzubilden.“ Er hebt die Arbeit des Systemhauses hervor: „Antonius Köster und seine Mitarbeiter haben jahrzehntelange Erfahrung im Formenbau, in der Modellierung mit Freeform und im 3D-Druck. Köster zeigt uns, wenn wir nicht weiterwissen, Wege auf, effizient zum Ziel zu kommen und hilft problemspezifisch in unseren Bachelor- und Masterarbeiten.“
Freeform schließt die Lücke zwischen Handwerk und digitalem Modell
Matyssek weiter: „Freeform ist auf der einen Seite ein mächtiges Werkzeug, das uns jegliche Freiheit in der Modellierung lässt. Das Touch-Device gibt uns haptisches Feedback und schließt die Lücke zwischen der handwerklichen Arbeit und dem digitalen Modell. Auf der anderen Seite ermöglichen es uns die Dynabots, den großen Funktionsumfang der Software vor dem Anwender zu verbergen und ihm gezielt das jeweils richtige Werkzeug an die Hand zu geben.“
“Geomagic Freeform bietet dieselben Optionen und Werkzeuge, die ich sonst im Gipsraum zur Verfügung habe.”—Steffen Matyssek
Prof. Capanni sieht die Vorteile für den Patienten: „Für bestimmte Orthesen entfällt beispielsweise der Gipsabdruck, da die benötigten Daten mittels 3D-Scantechnologie gewonnen werden und im Anschluss über die softwarebasierte Bearbeitung in den Druck gehen. Weiterhin eröffnet die Digitalisierung die Möglichkeit, bislang nicht realisierbare Geometrien zu ‚konstruieren‘ und den persönlichen Wünschen des Patienten im Hinblick auf Funktion und Ästhetik anzupassen. Die erneute Herstellung eines bereits konstruierten Hilfsmittels kann ‚per Knopfdruck‘ erfolgen.“
Steffen Matyssek öffnet die Perspektive: „Die digitale Technik verdrängt die bestehenden Techniken nicht, sondern ergänzt sie und macht die Arbeit effizienter. Zudem hilft die Standardisierung, die Qualität unserer Produkte gleichmäßig hoch zu halten. Der 3D-Druck gibt uns ganz neue Möglichkeiten der Individualisierung an die Hand. Wir arbeiten an einer Revolution unseres Berufsbilds und Geomagic Freeform ist ein wichtiger Bestandteil und Basis dieser Revolution.“